Was ist Ludologie?

Täglich sind wir von spannenden Wissenschaftsthemen umgeben. Mit dem Format „Wissenssnack“ möchten wir aktuelle wissenschaftliche Themen näher beleuchten und durch gezielte Fragen an unsere unterschiedlichen Expert*innen am Campus Lingen aufklären.
Das nachfolgende Interview hat Hochschul-Redakteurin Miriam Kronen mit Prof. Dr. Andreas Wolfsteiner geführt. Er ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft am Institut für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Spielforschung und -theorie. Seit mehreren Jahren befasst er sich unter anderem mit der Geschichte und Theorie von Szenarien.
Herr Professor Wolfsteiner, was versteht man unter Ludologie?
Der Begriff kommt vom Lateinischen „ludus“ – das Spiel und vom griechischen „logos“ für die Lehre. Ludologie ist also die Lehre vom Spiel. Ein Ludologe oder eine Ludologin beschäftigt sich mit der Geschichte, den Strukturen und Systematiken von Spielen.
Es ist spätestens seit dem Erscheinen von Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ im Jahre 1795 klar, dass das Spiel nicht nur so eine Art Freizeitverwertungsfunktion hat, sondern auch die Funktion, uns innerhalb bestimmter sozialer und planerischer Kontexte auf etwas vorzubereiten. Dabei handelt es sich nicht nur um ein reines Training, um etwas Neues zu erlernen, zu erfahren oder vorauszudenken. Das Spiel ist durch repetitives (Anmerkung der Redaktion: wiederholendes) Üben etwas, das zu einem tiefen Verständnis und zu Erkenntnisfertigkeiten führt. Durch direkte Vermittlung im Frontalunterricht, durch Anlesen oder durch Imitation ist das nicht möglich.
Welche Spielarten gibt es?
Dazu muss man verschiedene bedeutende Veröffentlichungen der Ludologie heranziehen. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga verfasste im Jahr 1938 „Homo ludens“ - spielender Mensch. Dabei handelt es sich um eine grundlegende Studie innerhalb der Kulturgeschichte von Spielen. Rund zwanzig Jahre nach Huinzigas Ausführungen entstand mit „Les jeux at les hommes“ („Die Spiele und die Menschen“) des französischen Soziologen Roger Caillois eine weitere wegweisende Untersuchung. Dieser würdigt Huizinga zwar, kritisiert ihn aber auch. Denn für ihn ist es schwer vorstellbar, dass das Spiel etwas Einheitliches ist. Er schlägt eine Einteilung nach Spielprinzipien vor. Abhängig davon, ob in den jeweiligen Spielen Wettstreit, Zufall, Rollenspiel und Maskierung oder Nervenkitzel und Rausch eine wesentliche Rolle spielen und unterteilt die Spiele in vier verschiedene Kategorien: agon, alea, mimicry und ilinx.
- agôn ist der Wettkampf, Wettstreit. Das sind z.B. Sportspiele wie American Football oder Fußball, also Spiele, bei denen Mannschaften und Einzelteams gegeneinander antreten.
- alea sind die Zufallsspiele. Dazu gehören Würfelspiele oder bestimmte Kartenspiele, bei denen der Zufall das Spiel macht.
- mimicry ist für Caillois das Nachahmen. Beim dritten Typus sind wir mitten in der Theaterwissenschaft. Das Spektrum reicht hier vom Schauspiel und von der höheren Form der Typenkomödie in der Commedia dell ‘arte Arie bis hin zur Verkleidung der Kinder im Spiel.
- ilinx meint Wirbel, Verwerfungen. Das ist eine andere Kategorie des Spiels. Dazu gehören die Dreh- und Schwindelspiele, die vor allem bei Kindern zu beobachten sind. Aber auch bei Tanzgruppen oder beim Paartanz kommen sie vor, wenn Rock'n'Roll-Tänzerinnen in die Luft geworfen werden. Es geht um eine Enthebung von Schwerkraft-Erlebnissen. Das sieht man z.B. auch in der Achterbahn.
Gibt es noch weitere Unterteilungen?
Ja, die Unterscheidung der vier Spielformen ist für Caillois nicht ausreichend. Er skaliert die vier Felder noch zwischen zwei Polen. Er führt an, dass es Spiele gibt, die hoch verregelt seien. Diese haben nur geringfügig Freiheitsgrade. Dazu gehört etwa das Schachspiel. Es gibt klare Strukturen und Regeln, die eng gesteckt sind. Aber es existieren auch Spiele, da sind die Regeln sehr frei – z.B., wenn ein Kind Astronaut spielt. Diese beiden Extreme bezeichnet Caillois auf der Seite der Regelstrenge als „Ludus“ und auf der anderen Seite der hohen Regelfreiheit als „Paidia“.
Aber im Grunde sind Spiele immer Mischungen. Ein, zwei, drei, manchmal sogar vier dieser Elemente. Aber jedes Spiel bleibt stets „hoch verregelt“, „wenig verregelt“ oder „durchschnittlich verregelt“. Durch diese Skalierung der vier Spieletypen zwischen Ludusund Paida entsteht ein abstraktes Modell von Spieletypen: dieses ist nach wie vor ein hilfreiches Werkzeug für Ludolog*innen. Natürlich gibt es auch spätere Systeme. So wie sich Kunstformen verändern, so verändern sich auch die Stilistiken des Spiels. Ein Brettspiel der 20er Jahre hat eine andere Ästhetik und ggf. anderen Content als ein Brettspiel, das heute entwickelt wird.
Welche Rolle spielt Ludologie in der Theaterpädagogik am Campus Lingen?
Es ist klar, dass Spiele, also nicht nur die Theorie von Spielen, sondern auch die Vermittlung von konkreten Spielen, wie unter anderem Gruppenspiele, wichtig für alle Bestandteile der Theaterpädagogik sind. Denn wenn die Studierenden später im Berufsleben stehen, ist es notwendig, das Rüstzeug für verschiedene Spielarten zu haben – schließlich bildet die Theaterpädagogik ihre Studierenden zu Spielleiter*innen aus. Bestimmte Arten gruppendynamischer Interaktion und Partizipation werden am Institut für Theaterpädagogik systematisch vermittelt. Das geht vom einfachen Klatschkreis bis hin zu komplexen Sprachvermittlungs- und -erhaltungsspielen, die etwa in der Therapie von Menschen mit Demenz eingesetzt werden. Durch das Spiel werden Erinnerungen geweckt und eine Art Handlungsresonanz entsteht.
Wie können „Spiele“ für die Forschung genutzt werden?
Seit Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre werden sogenannte Serious Games, also „ernste Spiele“, immer wichtiger. Diese kommen beispielsweise zum Einsatz, um taktische oder strategische Planungen buchstäblich durchzuspielen. Das geht von der militärischen Manöverplanung über die ökonomische Planung bis hin zur Wirtschaftsstrategie. Diese „ernsten Spiele“ sind ein wichtiges Element, um künftige Entwicklungen vorauszudeuten, zu antizipieren und adäquate Handlungsszenarien zu entwerfen. Dies spielt in der Krisenprävention eine Rolle, aber genauso in der Klima- und Technikfolgenforschung. Aber auch in der Krankheitsprävention werden hypothetische Fallstudien simuliert. Fragen sind z.B.: Wie wahrscheinlich ist es, dass irgendwelche Krankheitsgefahren auf uns zukommen? Dabei hängen dann auch viele ideologische Fragestellungen an …
Ich erforsche bereits seit mehreren Jahren Szenarien unter dem Begriff der „Sichtbarkeitsmaschinen“. Dabei geht es im Endeffekt um die Geschichte und Theorie von Szenarioplanung, das heißt die Technik, unterschiedliche künftige Ereignismodelle zu analysieren sowie verschiedene Konfigurationen von Daten und Fakten zu berücksichtigen. „Szenerien“ sind dabei keine Vorhersagen oder Prognosen im eigentlichen Sinne, vielmehr handelt es sich um gleichberechtigt nebeneinander stehende je alternative Sichtweisen davon, wie die Zukunft – unter diesen oder jenen Bedingungen – aussehen könnte. Das ist sehr spannendes Feld und es gibt neuerdings verstärkt Bestrebungen, neue Studiengänge im Bereich der Serious Games auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für den Wissenssnack genommen haben.
Von: Miriam Kronen