Offener Brief an alle, die Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen Montag, 6. Dezember 2021
Der Osnabrücker Hochschulpräsident Prof. Dr. Andreas Bertram mahnt, in der Pandemie-Krise der Erosion unseres „sozialen Kapitals“ dringend etwas entgegen zu setzen. "Wir müssen wieder ins Gespräch kommen", sagt Bertram.
An alle, die Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen,
ich mache mir als Präsident der Hochschule Osnabrück um unsere Gesellschaft große Sorgen, die ich gerne mit Ihnen teilen möchte. Wir an der Hochschule Osnabrück leisten mit unserem gut kontrollierten und breit akzeptierten 3G Konzept einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Hochschulaufgaben in Lehre und Forschung. Die Mitglieder unserer Hochschule sind aus eigener, freier Entscheidung zu einem hohen Prozentsatz geimpft. Wir respektieren die Entscheidungsfreiheit eines jeden Einzelnen und halten das damit verbundene regelmäßige Testen für einen guten Kompromiss. Wir haben in zwei Jahren keinen einzigen Fall eines Hotspots in einer Lehrveranstaltung durch den Präsenzbetrieb dokumentieren können. Unser Hygienekonzept und die Verantwortlichkeit aller Mitglieder unserer Hochschule haben dazu beigetragen. Darauf sind wir stolz.
Der Blick über die Hochschule Osnabrück hinaus zeigt mir jedoch, dass der öffentliche und auch private Diskurs um den richtigen Kurs zur Bewältigung der Herausforderungen durch die Corona Pandemie unser „Soziales Kapital“ - die Bereitschaft einer Gesellschaft in Krisenzeiten und Zeiten starker Veränderungen füreinander einzustehen - nachhaltig aufzuzehren droht. Neben der steigenden „ökonomischen Inflation“ nehme ich auch eine zunehmende „soziale Inflation“ und eine große Hilflosigkeit im Umgang damit wahr. Ich bin als Präsident einer der Gesellschaft verantwortlichen Bildungseinrichtung der festen Überzeugung, dass wir parallel zu dem harten Diskurs um die richtigen Maßnahmen zur Vermeidung einer Überlastung unseres Gesundheitssystems dringend Initiativen und neue Impulse für die Förderung des sozialen Wachstums benötigen.
Mir ist bewusst, dass der Druck auch in unserer Hochschule steigt und damit der Wunsch, durch spontane Handlungen diesen zu vermindern. Ich nehme in vielen Gesprächen mit Mitarbeitenden und Studierenden auch wahr, dass das tiefe Bedürfnis zunimmt, sich mit seinen Sorgen, Nöten und Zweifeln mitzuteilen. Die Diskussionskultur im öffentlichen und privaten Raum entwickelt sich in Richtung zunehmender „Abstempelung“ und Polarisierung, verhindert die so wichtigen offenen Gespräche und setzt eine Spirale der Spaltung in Gang. Dies wird aktuell durch die spontane Idee der Einführung einer Impfpflicht ohne eine substantielle, öffentliche und ergebnisoffene Diskussion zusätzlich angeheizt.
Sind wir dabei, unser „soziales Kapital“, die Bereitschaft einer Gesellschaft in Krisenzeiten und Zeiten starker Veränderungen füreinander einzustehen, gerade existenziell aufzuzehren?
Wir befinden uns nach meiner Wahrnehmung in einer Phase, in der wir uns zunehmend weniger die Mühe machen, begründete Zweifel und vielfach vorhandene Ängste und Sorgen von den Positionen der „Spalter*innen“ in unserer Gesellschaft klar zu unterscheiden und zu trennen. Wir wissen doch gerade in der Wissenschaft, dass der Zweifel an sich das wesentliche, qualitätssichernde Element allen Erkenntnisstrebens ist. Wie wollen wir den notwendigen gesellschaftlichen Konsens für die vor uns liegende Transformation der Gesellschaft mit Blick auf beispielsweise unsere Klimaziele ohne ausreichend „soziales Kapital“ erreichen? Die in der aktuellen Diskussion implizit empfundene politische Delegation der Verantwortung für Lösungen an die Wissenschaft ist der falsche Weg. Wissenschaft liefert in allen Fachgebieten eine Faktenlage, auf deren Basis und nach politischem Diskurs unter Einbeziehung aller Blickwinkel Entscheidungen getroffen werden müssen.
Wir müssen der Erosion unseres „sozialen Kapitals“ dringend etwas entgegensetzen. Das geht nach meiner Überzeugung nur durch Gespräche und vor allem durch empathisches Zuhören. Wir brauchen dringend beziehungsstärkende Diskussionsformate und Teamfähigkeit im öffentlichen Raum, wir brauchen dafür die Kreativität und die Initiative vieler. Wir alle müssen für diese Formate geeignete Räume schaffen und wir gemeinsam müssen für die Sicherheit aller Beteiligten, insbesondere auch der Minderheiten, sorgen. Wir alle stehen in der Verantwortung, dabei aber auch den Spalter*innen unserer Gesellschaft entschieden entgegen zu treten.
Wir müssen wieder ins Gespräch kommen.
Andreas Bertram
Präsident der Hochschule Osnabrück